„Erst wenn ich weiß, wo ich herkomme, erkenne ich, wo ich bleiben will“, so Eleonora Hummel über ihren neuen Roman „Die Venus im Fenster“ und warum es wichtig ist, seine eigene Geschichte zu kennen.
Von Nina Paulsen
Mit ihrem neuen Buch „Die Venus im Fenster“, 2009 im Steidl-Verlag erschienen, setzt Eleonora Hummel das Thema ihres Debütromans „Die Fische von Berlin“ fort – in beiden Buchpublikationen steht die wendungsreiche Geschichte einer Aussiedler-Familie, und somit die Geschichte und Gegenwart der russlanddeutschen Volksgruppe insgesamt, im Mittelpunkt. Sie zeichnet leidvolle Schicksale, erzwungene und verlustreiche Wanderwege einer Familie, die über Jahrhunderte reichen und kennzeichnend für zahlreiche andere russlanddeutsche Familien sind: Vom Württembergischen bis ins Schwarzmeergebiet im 19. Jahrhundert, von Südrussland nach Deutschland im 2. Weltkrieg, in die Sowjetunion nach dem Kriegsende und zurück aus Kasachstan nach Deutschland in den 80er Jahren bis zum späten Nachzug in den 90er Jahren und heute.
Mit leisem Humor und verhaltener Ironie, in einer klaren, dichten Sprache, die den Schrecken und das Leid der Vergangenheit noch greifbarer hervortreten lässt, erzählt die Autorin aus der Perspektive eines Mädchens bzw. einer jungen Frau. In beiden Romanen ist Alina diejenige, die ihren Großeltern die oft Jahrzehnte lang verborgene oder verschwiegene Geschichten ihrer Familie nach und nach entlockt. Sie verknüpfen sich zu einem Panoramabild des Schicksals der Russlanddeutschen ungeheuerlichen Ausmaßes, und sie lassen in eine History eintauchen, in deren Zug ein Volk zwischen die Räder der großen Politik geriet und zermalmt wurde.
Anregungen konnte Eleonora Hummel aus der Geschichte der eigenen Familie schöpfen, durch Familienaufzeichnungen und Recherchen in Archiven hat sie ihren beiden Romanen eine beachtliche historische Tiefe gegeben. Zum einen sind es die Erlebnisse ihrer Ich-Erzählerin Alina, die mit 12 Jahren nach Deutschland kommt und sich zu einer selbstbewussten jungen Frau entwickelt. Zum anderen die Geschichten ihrer Großeltern, die aus der Vergangenheit erzählen. Diese beiden Ebenen verknüpfen sich immer wieder und lassen die Tragik der alltäglichen Diskriminierung und Ausgrenzung der Russlanddeutschen, aber auch ihrer Hoffnungen und Illusionen unter die Haut gehen.
Eleonora Hummel wurde 1970 in Kasachstan geboren. Als Zehnjährige zog sie mit ihren Eltern in den Kaukasus, zwei Jahre später, 1982, siedelte die Familie in die ehemalige DDR, nach Dresden, über. Eleonora studierte Fremdsprachenkorrespondentin und ist seit 1995 literarisch aktiv. Die zweifache Mutter lebt in Dresden und ist freischaffende Autorin. Sie veröffentlicht Prosa und Artikel in zahlreichen Literaturzeitschriften und tritt bundesweit mit Lesungen auf. 2001 erhielt Hummel das Stipendium des 5. Klagenfurter Literaturkurses. Für den Romanauszug „Dreizehn Winter“, wo sie die Odyssee einer russlanddeutschen Familie beschreibt, wurde sie 2002 mit dem Förderpreis des Russlanddeutschen Kulturpreises des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet. 2003 bekam sie das Literaturstipendium der Stiftung „Künstlerdorf Schöppingen“. 2005 ist ihr Debütroman „Die Fische von Berlin“ im Steidl-Verlag (2007 auch als Taschenbuch) erschienen, für den sie 2006 mit dem Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis geehrt wurde. Für die Arbeit am Nachfolgeprojekt „Die Venus im Fenster“ erhielt Eleonora Hummel ein Arbeitsstipendium der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen für sächsische Schriftsteller. Nina Paulsen befragte Eleonora Hummel zu ihrem neuen Roman.
Nina Paulsen: Ihr neuer Roman „Die Venus im Fenster“ setzt das Thema „Die Fische von Berlin“ - aus einem etwas anderen Blickwinkel - fort. Warum war es Ihnen wichtig, thematisch an der Geschichte der Russlanddeutschen zu bleiben? Eleonora Hummel: Es war noch Stoff übrig für ein zweites Buch. Nein, im Ernst: mit der Geschichte der Russlanddeutschen kann man sicherlich noch viele Bücher füllen. Mein persönliches Anliegen war, jeweils ein exemplarisches „männliches“ und „weibliches“ Schicksal aus dieser Epoche darzustellen. Frauen und Männer erlebten die Terror-, Kriegs- und Lagerjahre ja üblicherweise getrennt, ich wollte diesen zwangsweise getrennten Lebenswegen einzeln nachgehen. Es erschien mir naheliegend, dieses Vorhaben in Form von zwei in sich abgeschlossenen Romanen umzusetzen. So steht in „Die Fische von Berlin“ ein – mehr oder weniger – typisches Männerleben aus dieser Generation im Mittelpunkt (Großvater), in „Die Venus im Fenster“ ein typisches Frauenleben (Großmutter). Ich glaube, anhand der geschilderten Lebensläufe zumindest, einen groben Abriss der Geschichte der Russlanddeutschen vermittelt zu haben, so dass ich mich im nächsten Buch auch einer anderen Thematik zuwenden kann. Ich werde jedoch insbesondere die 1930er Jahre in der Sowjetunion nicht aus dem Blickfeld verlieren, da diese Zeit noch lange nicht gründlich aufgearbeitet ist. N. P.: Die Großmutter Erika, ihr Besteckkasten mit Erinnerungsstücken und ihre erzählten Geschichten schlagen eine Brücke zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart der Familie Schmidt und zeugen gleichzeitig vom langen Atem der Geschichte. Die wechselvolle Familiengeschichte greift ganz tief in das Leben von Alina Schmidt. Gibt es diesbezüglich Parallelen zwischen Ihnen und der Hauptheldin?
E. H.: Das Buch ist nicht autobiographisch, aber natürlich gibt es Parallelen. Ich glaube, man kann sich vom Erlebten seiner Vorfahren nicht gänzlich frei machen, so sehr man es mitunter möchte. Selbst wenn man sich nie intensiv damit auseinandergesetzt hat (wozu meiner Meinung nach niemand verpflichtet ist, obwohl ich ein solches Desinteresse schade finde und nicht nachvollziehen kann), wirkt es unbewusst auf einen ein. Versuche, einen Schlussstrich unter eine tragische Vergangenheit zu ziehen, sind in der Regel zum Scheitern verurteilt. Verdrängung mag kurzfristig helfen, ist jedoch kein Allheilmittel. Irgendwann holt es einen wieder ein. Daher halte ich es für sehr wichtig, seine eigene Geschichte zu kennen. Sie hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Erst wenn ich weiß, wo ich herkomme, erkenne ich, wo ich bleiben will.
N. P.: Mit Ihrem neuen Roman vertiefen Sie den historischen Einblick in die tragische Geschichte der Russlanddeutschen, die in die Mahlsteine der Geschichte geraten und zerrieben werden, noch mehr. Ein Kapitel, das hierzulande immer noch weitgehend unbekannt bleibt. Wie soll die Literatur der Deutschen aus Russland sein, damit sie aus der Nische der Bedeutungslosigkeit heraustritt und wahrgenommen wird?
E. H.: Das ist schwer zu sagen. Wenn das jemand wüsste, gäbe es nur noch Bestseller. Bücher, die nicht nur reißenden Absatz finden, sondern auch (oder gerade deshalb?) von der Kritik wahrgenommen werden, stammen oft aus der Feder von Prominenten. Wir wissen alle, dass das selten etwas mit literarischer Qualität zu tun hat, sondern schlicht mit dem Promi-Status der Verfasser. Unbekannte Autoren haben es generell schwer. Es müssen viele Faktoren zusammen kommen, diese vorauszusehen und zu beeinflussen, fällt selbst Marktkennern nicht leicht. Es gibt keine Erfolgsgarantie. Gute Literatur bildet für mich eine Einheit aus Inhalt und Form. Im visuellen Zeitalter mag man außerdem erwarten, dass der Autor/die Autorin zu seinem Werk „passt“, authentisch ist, eine Eignung zur Medienpräsenz und einen interessanten persönlichen Background zu bieten hat. Ich finde, man sollte diese Dinge wissen, aber nicht überbewerten, sondern immer bemüht sein, einen goldenen Mittelweg zwischen künstlerischem Anspruch und guter Lesbarkeit zu suchen. Ein Autor, dessen Bücher zufriedene Leser finden, wird sich herumsprechen und auf lange Sicht auch erfolgreich sein und wahrgenommen werden. Ein wichtiger Partner ist natürlich ein Verlag mit guten Vertriebswegen und Werbemöglichkeiten. Ansonsten dürfte es hier mit dem Erfolg wie überall laufen: man muss zur richtigen Zeit den richtigen Nerv treffen! Andererseits ist es schon auffällig, dass unsere Landsleute auch nach Jahrzehnten in der Bundesrepublik nicht nur wenig literarisch, sondern auch kaum politisch und sozial in Erscheinung treten. Manchmal habe ich den Eindruck, als setze sich der uns in der Sowjetunion eingeimpfte Drang, möglichst „unsichtbar“ zu sein, um von der Staatsmacht unbehelligt leben zu können, über die Generationen fort. Keine gute Voraussetzung für das Leben in einer Demokratie und bei Betrachtung der langen Zeiträume ein äußerst unbefriedigender Zustand. Es gab in den letzten Jahren einige Erfolgsmeldungen, die meines Erachtens nicht ausreichend von der Öffentlichkeit beachtet wurden. Hier braucht es noch größeres Engagement unsererseits, lautere Stimmen, mehr politisches Interesse, um Medienpräsenz zu erzielen.
N. P.: Ihr Roman spielt in der DDR und im vereinten Deutschland, somit zeigen Sie auch ein Stück deutsch-deutscher Geschichte. Was waren die wichtigsten Unterschiede oder auch Gemeinsamkeiten in der Integration der Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion in der DDR und der BRD?
E. H.: Wenn ich von meinen eigenen Erfahrungen ausgehe: Wir sind in die DDR als „normale“ Ausländer mit Sowjetpass gekommen. Den Begriff „Aussiedler“ gab es in der DDR ebenso wenig wie eine automatische Einbürgerung von Deutschstämmigen. Von Integration sprach damals niemand. Man bekam eine Altbauwohnung mit Ofenheizung und einen Arbeitsplatz zugewiesen. Ab da war man sich selbst überlassen. Sprachkurse gab es nicht, deutsch zu lernen lag in der eigenen Verantwortung des Einzelnen. Schulpflichtige Kinder hatten es sicherlich leichter, die konnten in der Schule deutsch lernen. Rücksicht wurde insoweit genommen, als dass ich im ersten Jahr keine Noten erhielt. Wenn aber ein Erwachsener ohne ausreichende Sprachkenntnisse von heute auf morgen eine Arbeitsstelle in einem fremden Land antreten muss, stelle ich mir das schwierig vor. Wir hatten Glück, dass es trotzdem irgendwie geklappt hat. Meinen Eltern hörte man zwar an, dass sie nicht aus Sachsen kommen, aber sie konnten sich von Anfang an gut verständigen. Insofern kann man das Ankommen in der DDR nicht mit den staatlich organisierten Eingliederungshilfen, Sprachkursen, u. a. Angeboten in der BRD vergleichen.
N. P.: Alina Schmidt ist erwachsen geworden, und sie weiß sich zu behaupten auf der Suche nach sich selbst. Wird ihre Geschichte weitergehen? Immerhin endet der Roman in gewisser Zerrissenheit zwischen der Venus im Fenster (Traum Astronomie) und der Venus im Fenster (Plastik auf dem Fensterbrett als Sinnbild der Kunstleidenschaft). Haben Sie auch einen persönlichen Bezug zu diesem Symbol?
E. H.: „Die Venus im Fenster“ ist ein Buch über die Möglichkeiten des Ankommens und die Unmöglichkeit der Liebe. Ich habe die Venus in ihren verschiedenen Gestalten als Symbol für die Sehnsucht gewählt. Sie tritt als Göttin der Liebe, als Himmelskörper und als Figur in der antiken Kunst auf. Die Idee dazu entstand während des Schreibprozesses. Man hat natürlich immer einen persönlichen Bezug zu dem, was man schreibt. Ich habe als Kind meine Interessengebiete häufig gewechselt, so war es eine Zeitlang die Mythologie der Antike mit den dazugehörigen Kunstwerken, später waren es Sterne und Planeten und irgendwann die Liebe. Das Interesse am Letzteren bleibt ja einem dann gewöhnlich lange erhalten. Am Ende des Romans steht die Venusfigur für neue Wege, andere Möglichkeiten, die man bis dahin vielleicht nicht gesehen hat. So wird aus dem Symbol für letztlich unerfüllte Sehnsüchte ein Sinnbild der Zuversicht. Die Geschichte der Alina Schmidt endet mit einem Neuanfang, ich werde ihren Weg jedoch nicht weiter verfolgen. Die Heldin meines nächsten Buches kommt aus einem Dorf in der Oberlausitz.
N. P.: Frau Hummel, vielen Dank für das aufschlussreiche Interview.